Übersetzung aus dem Englischen: Ingrun Wenge
Im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte hat sich unser Blick auf die gesellschaftlichen Funktionen, das Potenzial und die Verantwortung von Museen verändert. Die Vorstellung, Museen hätten einen originär kulturellen Auftrag, Aktionsradius und Einfluss – sie wären losgelöst von der sozialen Sphäre, in der sie verortet sind, und in ihrer Aktivität des Sammelns, Forschens und Interpretierens relativ unbekümmert angesichts der Ungleichheiten, Diskriminierungen, Vorurteile und Rechtsverletzungen, die unsere Gesellschaften kennzeichnen – wird zunehmend als unhaltbar und unvertretbar betrachtet.
Die Tatsache, dass Museen nicht die Gesellschaft widerspiegeln, sondern diese aktiv mitgestalten, wird in der internationalen Museumswelt zunehmend zur Kenntnis genommen. Die professionelle Debatte setzt sich inzwischen mit wachsendem Interesse mit der Frage auseinander, wie Museen, Galerien und Kulturerbestätten gesellschaftliche Diskurse über Gleichheit, Gerechtigkeit und Differenz beeinflussen und mitbestimmen. In umfangreicher Forschungsliteratur werden die Entscheidungen darüber untersucht, was gesammelt wird, wessen Geschichte erzählt wird und wie, wer eingeladen und wirklich willkommen ist und wer in die Lage versetzt wird, an der Produktion von Kultur mitzuwirken (Sandell 2016; Chynoweth et al 2020).
In jüngster Zeit haben die Black Lives Matter-Proteste, die sich, ausgelöst durch die Tötung George Floyds am 25. Mai 2020, weltweit ausbreiteten, alle verbleibenden Zweifel an der Komplizenschaft von Museen an der Reproduktion gesellschaftlicher Macht- und Unterdrückungsstrukturen energisch hinweggefegt. Museen sind durch die Narrative, die sie gemeinsam mit anderen Akteur*innen in ihrem Raum konstruieren und erzeugen, Mitgestaltende eines moralischen und politischen Klimas, in dem manche Menschen mehr Wertschätzung erfahren als andere und in dem Tag für Tag Kämpfe um Gleichberechtigung, Würde, Respekt und faire Behandlung ausgetragen werden. Mittlerweile sehen sich sogar die konservativsten und klassischsten Kulturorganisationen, die ein gezieltes und aktives Engagement in sozialen Fragen der Gegenwart als traditionell außerhalb ihrer Zuständigkeit betrachteten und dies vielmehr als Aufgabe spezieller Menschenrechtsmuseen und Gedenkstätten ansahen, gezwungen, öffentlich die eigene Rolle anzuerkennen, die sie bei der Legitimierung des Lebens bestimmter Menschen und bei der Ausgrenzung, Unterdrückung und Verletzung anderer Menschen spielen.
Derzeit wird zwar kaum bestritten1, dass Museen immanent politisch und intensiv mit den gesamtgesellschaftlichen Strukturen und Praktiken verwoben sind, die das Leben der Menschen prägen, – und dass sie dabei einigen Chancen und Möglichkeiten eröffnen, die anderen wiederum verschlossen bleiben. Weniger Einvernehmen gibt es jedoch darüber, welche Konsequenzen diese Einsicht für die praktische Arbeit der Museen haben soll. Wie also können Museen ihr Denken und Handeln ethisch und sozial verantwortlich ausrichten und ihre Ressourcen so einsetzen, dass sie Ungleichheiten entgegenwirken, Strukturen der Unterdrückung abbauen und zu einer guten Gesellschaft beitragen?
Ausgehend von der Erkenntnis, dass Museen mit dem politischen und gesellschaftlichen Umfeld, in dem sie operieren, untrennbar verflochten sind, betonen die Verfasser*innen die Notwendigkeit für Museen, sich als aktive, achtsame und zielbewusst handelnde gesellschaftliche Akteure zu begreifen. Als Institutionen, die in besonderer Weise dazu beitragen können, unsere Gesellschaften demokratischer, gerechter, diverser, barrierefreier und fairer zu machen und das Leben aller Bürger*innen zu verbessern. Dabei werden vor dem Hintergrund aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse, Debatten und Beispiele drei zentrale Fragen untersucht:
Worin liegt die gesellschaftliche Wirkungsmacht oder der Einfluss von Museen, und wie tragen sie zur Gestaltung der Welt bei?
Über welche spezifischen Ressourcen zur Bearbeitung aktueller Themen und gesellschaftlicher Probleme verfügen Museen?
Welche Aufgaben ergeben sich aus dem Verständnis von Museen als gesellschaftlichen Akteuren, und was bedeutet das für die Museumspraxis der Zukunft?
Im Folgenden wird beleuchtet, wie Museen, Kulturerbestätten und Galerien aller Art mit ihren jeweiligen Sammlungen, Zielgruppen, Projekten und Führungsstrukturen in Prozesse eingebunden sind, durch welche Teilhabe, sozialer Einbezug und Gleichberechtigung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen ausgehandelt werden, und wie Museen selbst zu diesen Prozessen beitragen. Die Verfasser*innen zeigen dabei auf, dass Museen als wirkmächtige Akteure über ein – weitgehend unausgeschöpftes – Potenzial zur Schaffung einer faireren und gerechteren Gesellschaft verfügen.
Die Wirkungsmacht von Museen: Wie Museen die Welt beeinflussen
Die Auffassung, dass Museen gesellschaftliche Akteure sind – und somit die Gesellschaft positiv beeinflussen und gestalten können – ist zunehmend zentraler geworden und wird durch eine Fülle von Forschungsarbeiten zur politischen, ethischen und moralischen Identität von Institutionen belegt.2 Auf der ganzen Welt äußern sich mittlerweile zahlreiche Museen zu der Rolle, die sie dabei spielen, unterschiedlichen Gruppen und Kulturen zu mehr Akzeptanz und Respekt zu verhelfen. In Großbritannien etwa formuliert die Museums Association mit ihrem Leitbild und der damit verbundenen Kampagne „Museums Change Lives“ die Überzeugung, dass Museumsprogramme einen unmittelbar positiven Einfluss auf Menschen, Communitys und die Zivilgesellschaft insgesamt haben. Bestärkt wurden Museen in ihrem ausdrücklich als gesellschaftlich formulierten Selbstverständnis und Stellenwert durch eine kleine, aber relevante Reihe empirischer Studien, die einen erheblichen Einfluss von Museen auf ihr Publikum nachweisen konnten.3
Diese empirischen Studien haben dazu beigetragen, dass wir die Museumsbesucher*innen des 21. Jahrhunderts besser verstehen – etwa die Tatsache, dass Besucher*innen die Inhalte, mit denen sie im Museum konfrontiert werden, nicht passiv konsumieren und unkritisch akzeptieren, sondern vielmehr in einem aktiven Prozess ihre Museumserfahrung verarbeiten. Museen stellen dabei durch sorgfältig arrangierte Narrative, in denen ethisch begründete Positionen zu unterschiedlichsten sozialen Themen transportiert werden, und durch kritische Auseinandersetzung, die Besucher*innen zu eigenen Reaktionen oder Urteilen anregt, für das Publikum eine Ressource dar, mit der sich die Welt der Gegenwart verstehen, hinterfragen und interpretieren lässt. Solche Prozesse mögen komplex und mitunter nur schwer zu erfassen, nachzuzeichnen und zu messen sein, aber sowohl in der praxisbezogenen als auch in der wissenschaftlichen Forschung wird immer deutlicher, dass Museen nicht nur das Individuum in seinem Denken beeinflussen, sondern auch gesellschaftliche Debatten und Diskurse im weiteren Sinne bereichern.4
So konnte etwa gezeigt werden, dass Museen besonders wirkmächtig sind, wenn es darum geht, gesellschaftliche Diskurse zum Thema Differenz zu definieren, zu strukturieren und ihnen einen Ort zu geben (Sandell 2007). Insofern als Museen „einen Rahmen für die gesellschaftliche Verständigung schaffen“, wie Eilean Hooper-Greenhill (2000: 20) es nannte, dienen sie schon seit Langem als Orte, an denen Konzepte der Differenz konstituiert, reproduziert und verstärkt werden. In zahlreichen Studien wurde bereits kritisch darauf hingewiesen, dass Museen dazu tendieren, ausgrenzende und marginalisierende Narrative zu erzeugen, die aktiv zu Prozessen des Othering beitragen und unterdrückerisch und diskriminierend auf solche Gruppen wirken, die den eng gefassten, elitären und dominierenden gesellschaftlichen Identitäten nicht entsprechen und damit letztlich soziale Ungleichheiten verstärken. Angesichts eines zunehmend differenzierten Diskurses zur Museumsethik (Marstine 2011) und eines wachsenden Interesses an der Frage, wie Museen zur Stärkung der Menschenrechte beitragen können, haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer mehr Museen versucht, auf diese Kritik zu reagieren und bei der Darstellung von Differenz einen stärkeren Fokus auf Respekt und Gerechtigkeit zu legen und vielfältige gesellschaftliche Gruppen in den Prozess der Sinnproduktion einzubeziehen. Museen bauen innerhalb ihrer eigenen, örtlich begrenzten und enorm unterschiedlichen Öffentlichkeiten Vertrauensbeziehungen zu ihren Zielgruppen auf, engagieren sich für Werte wie Gerechtigkeit, korrigieren zuvor in ihren Sammlungen und Ausstellungen übersehene oder zu wenig beachtete Benachteiligungen und gelangen so zu einer Neudefinition ihrer Ziele und Arbeitsweisen.
Während die kuratorische Praxis also vielerorts inklusiver geworden ist und sich bei der Darstellung von Differenz stärker um Gerechtigkeit bemüht, werden Forderungen an Museen lauter, sich offener und zugänglicher darzustellen und stärker um jene Menschen zu kümmern, die im Museumspublikum traditionell unterrepräsentiert sind. Heute wird von Museen mehr und mehr erwartet, dass sie sich sozial engagieren und gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen. Viele Besucher*innen, Community-Gruppen und Gleichstellungsaktivist*innen haben inzwischen erkannt, dass Museen mit ihrer Wirkungsmacht und ihrem Potenzial zu den Bedingungen beitragen, unter denen Vorurteile und Diskriminierung bekämpft sowie Gleichberechtigung und Fairness eingefordert werden (Sandell 2016). Vielen Museen eröffnet dieser Wandel spannende neue Möglichkeiten, sich stärker nach außen zu öffnen und nachhaltige Allianzen mit anderen Akteur*innen zu schmieden – etwa in den Themen- und Arbeitsfeldern Gleichberechtigung und sozialem Einbezug, Gesundheit, karitativem Engagement und sozialen Diensten. Durch Partnerschaften dieser Art können gesellschaftlich aktive Museen ihre Relevanz und Wirkung weiter steigern. Und während Museen als relevante Akteure immer sichtbarer in Erscheinung treten, trägt ein wachsender Bestand wissenschaftlicher Arbeiten und deren Anwendung in der Praxis und Sozialpolitik dazu bei, die gesellschaftlich aktive Rolle von Museen weltweit fester zu verankern.
Die spezifische Rolle von Museen und ihr gesellschaftlicher Beitrag
Inwieweit sind Museen also in der Lage, zu sozialer Gerechtigkeit beizutragen? Und über welche spezifischen Ressourcen und Eigenschaften, die sich für mehr Gerechtigkeit und Fairness nutzbar machen lassen, verfügen sie?
Museen als öffentliche Räume und „Gegen-Institutionen“
Als bedeutsame öffentliche Räume verfügen Museen über die privilegierte Ressource des physischen Raums. Neuere Forschungen von Suzanne MacLeod (2020) begreifen moderne Museen im Kern als „Gegen-Institutionen“ (Muller, zitiert nach O’Neill 2013: 160), die mit der Absicht geschaffen wurden, dem entmenschlichenden Raum des Kapitals etwas entgegenzusetzen. MacLeod lenkt unseren Blick darauf, wie Menschen potenziell ermächtigt oder aber davon abgehalten werden, Museumsräume aufzusuchen und zu nutzen. Dabei wird deutlich, wie Museumsräume den Zugang zu bestimmten Beziehungen, Wissensbeständen und Erfahrungsmöglichkeiten eröffnen und zu anderen wiederum verschließen. MacLeod betont die beträchtlichen räumlichen und sozialen Ressourcen, die Museen besitzen und potenziell für ihre Zwecke einsetzen können. Den Fokus richtet sie dabei auf eine Form von Museumsarbeit, die die jeweils eigene Geschichte und eigenen Transpositionen von Museumsräumen würdigt und auf Entwürfe für ein kreatives Leben zielt, um sich spekulativ der Welt zu nähern, in der wir leben wollen, und so Beziehungen, Wissensbestände und Chancen entstehen lässt, die der Fülle des Lebens förderlich sind. Ausgehend von dem Gedanken, dass Museumsräume gezielt so gestaltet werden können, dass sie Möglichkeiten zu einem erfüllten, kreativen und selbstermächtigenden Leben aufzeigen, beschreibt MacLeod außerdem, wie sich in Museen weltweit auf der konzeptionellen und Organisationsebene ein Ansatz etabliert, der die Person zum Maßstab macht, der die persönliche Ebene – und damit einzelne Namen und persönliche Geschichten – in den Fokus rückt und das Programm weniger an internationalen Märkten oder Trends als vielmehr an lokalen Themen und Zusammenhängen orientiert. Solche Museen richten ihr Handeln an einer Ethik der Gleichberechtigung und Teilhabe aus und möchten mit ihrer Arbeit das Leben der Menschen vor Ort bereichern – insbesondere jener, die meist ausgeschlossen, unterdrückt und in Kulturinstitutionen unterrepräsentiert sind. Diese Museen räumen sozialen Beziehungen und Chancen auf gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe Vorrang ein und messen ihren Erfolg nicht an der Zahl der Besucher*innen oder am Jahresumsatz, sondern an den Erfahrungen und dem Nutzen, die den Einzelnen, der Gemeinschaft und der Gesellschaft insgesamt durch das Museum ermöglicht wurden. In seiner ausgeprägtesten Form ist ein solches Museum eine „Gegen-Institution“ – eine gesellschaftliche und räumliche Realität, die der gesamtgesellschaftlichen Ungerechtigkeit und Ungleichheit gezielt entgegenwirkt (MacLeod 2020).
Öffentliches Vertrauen und kulturelle Autorität
In einer Zeit, die geprägt ist von zunehmender Sorge über das Aufkommen von Fake News und weit verbreiteten Fehlinformationen sowie von Ängsten über die Rolle der sozialen Medien bei der Spaltung der Gesellschaft, bestätigen Studien immer wieder, dass Museen als Institutionen ein hohes Maß an öffentlichem Vertrauen genießen.5 Zwar ist die Wahrnehmung von Museen als vertrauenswürdige Institutionen nicht in der gesamten Bevölkerung gleich – gesellschaftliche Gruppen, die ausgegrenzt und falsch dargestellt werden, beurteilen die Integrität vieler kultureller Einrichtungen verständlicherweise mit Skepsis und Misstrauen –, aber im Allgemeinen gelten Museen als zuverlässige, glaubwürdige und legitime Informationsquellen mit geringer Anfälligkeit für die politischen Agenden und parteipolitischen Loyalitäten, wie sie für viele Mainstream-Medien kennzeichnend sind.
Dieses außergewöhnlich hohe Maß an Vertrauen bringt freilich eine Reihe von Verpflichtungen, Chancen und Herausforderungen mit sich. Wenn wir feststellen, dass Museen eine wichtige Rolle bei der Prägung gesellschaftlicher Diskurse über Differenz, Gerechtigkeit und Gleichheit spielen, dann obliegt es den Museen, mit ihrer Arbeit aktiv auf sozialen Zusammenhalt, Respekt und wechselseitige Akzeptanz hinzuwirken. Angesichts einer zunehmenden Polarisierung unserer Gesellschaften besteht die Herausforderung für Museen darin, Wege zu finden, wie sie mit ihren Aktivitäten progressive Werte fördern und zugleich ein diverses Publikum in gemeinschaftliche Prozesse des Nachdenkens über anspruchsvolle moralische und ethische Fragen einbinden. Fragen, die zweifellos komplex und Gegenstand einer Vielzahl legitimer Positionen sind.
Materielle Evidenz
In Untersuchungen zum gesellschaftlichen Einfluss von Museen wurde der spezifische Beitrag von Sammlungen oftmals vernachlässigt oder unterschätzt. In neueren, auf Studien zur materiellen Kultur gestützten Forschungsarbeiten (Cuzzola 2019) wird jedoch zunehmend die besondere Rolle materieller Objekte zur Wirkung von Museen hervorgehoben. Museumsobjekte berühren alle Facetten menschlicher Existenz, von der Identität über die Kultur bis hin zu Beziehungen. Die für den Museumsbesuch typische physische Begegnung mit materiellen Objekten verleiht Museen potenziell eine stärkere Wirkungsmacht als anderen vermittelnden Institutionen. Das Vorhandensein von Objekten – also „greifbaren Dingen“ – scheint eine wichtige Rolle bei der Konstituierung dessen zu spielen, was Donald Preziosi und Claire Farago als „Faktizität“ des Museums bezeichnen: die Fähigkeit, „Dinge in einer Form darzubieten, die in einem bestimmten zeitlichen und örtlichen Kontext als Fakten lesbar sind“ (2004: 13). Besucher*innenstudien6 haben gezeigt, dass Museen für Menschen besonders dann immersive, emotional intensive Erlebnisse schaffen, wenn sie Begegnungen mit Objekten ermöglichen. Diese affektiven Erfahrungen wiederum können dem Publikum Möglichkeiten der Reflexion, des Lernens und für Veränderungen eröffnen. All dies deutet darauf hin, dass Museen in besonderer Weise das Gros der zivilgesellschaftlichen Institutionen darin unterstützen könnten, aktiv den Vorurteilen und Diskriminierungen unserer Zeit entgegenzutreten.
Aufgaben und Chancen
Wenn wir das Museum also als gesellschaftlichen Akteur begreifen, als zentrale zivilgesellschaftliche Ressource, die die soziale Realität nicht nur widerspiegelt, sondern aktiv mitgestaltet: Welche Aufgaben und Chancen erwachsen hieraus, und wie können Museen die Herausforderungen meistern, die sich unweigerlich daraus ergeben? Denn dieser neue modus operandi von Museen wirft auch eine Reihe von Problemen auf: Wie können sie beispielsweise ihren Standpunkt zu moralischen Fragen ausloten, die die öffentliche Meinung spalten? Wie sollen sie bei potenziell konkurrierenden Repräsentationsansprüchen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen entscheiden? Welche Strategien sind am ehesten geeignet, ein diverses Publikum anzusprechen und einzubinden und Reflexionsmöglichkeiten zu eröffnen, statt Entfremdung und Ablehnung den Weg zu bereiten? Eine einfache Formel dafür, wie sich dieses unbeständige moralische Terrain navigieren lässt, gibt es nicht. Doch zugleich wächst das Bewusstsein, dass der Versuch, gesellschaftlichen, den öffentlichen Diskurs bestimmenden Themen auszuweichen oder mit Schweigen zu begegnen – ebenso wie der Versuch, unparteiisch zu sein –, zunehmend zum Scheitern verurteilt ist.
Museen als Partei im Streit
In den letzten Jahren ist die Annahme, Museen seien unparteiisch und unvoreingenommen, umfassend kritisiert worden. Mittlerweile gibt es einen relativ breiten Konsens darüber, dass Museen per definitionem politisch sind, auch wenn dies in Ausstellungspublikationen nur selten eingestanden und dort weiter an ihrer angeblichen Objektivität festgehalten wird. Hierzu schreibt David Fleming: „Bei der Neutralität von Museen hat man es nicht bloß mit dem Vermeiden einer Positionierung zu tun, sondern auch mit der verdeckten Positionsnahme, die sich als Neutralität tarnt.“ „Die Welt,“ so Fleming weiter, „ist voll von vermeintlich neutralen Museen, die vorgeben, überhaupt keine Position zu beziehen, und damit die Öffentlichkeit täuschen“ (2016: 8).
Doch trotz dieser wachsenden Erkenntnis, dass Museen nicht neutral sind, sondern unsere Wahrnehmung, unser Denken und Handeln aktiv beeinflussen, wird die Vorstellung, Museen könnten gezielt in öffentliche Debatten eingreifen – das heißt sich um öffentliche und politische Unterstützung für eine bestimmte Vision der Gesellschaft bemühen und sich explizit für Werte wie Gleichheit, Fairness und Gerechtigkeit einsetzen –, von vielen Museumsleiter*innen und -praktiker*innen noch immer als beunruhigend empfunden. So wird das Argument vorgebracht, eine Positionierung zu strittigen Themen sei mit dem traditionellen Gebot der Ausgewogenheit und Überparteilichkeit in der Museumsarbeit unvereinbar und es seien stets beide Seiten einer Kontroverse darzustellen, ohne für eine von ihnen Partei zu ergreifen.
Deshalb präsentieren sich viele Museen, statt ihre Position zu strittigen Fragen der Gegenwart zu artikulieren, lieber als Dialogforum, das unterschiedlichen Meinungen Raum gewährt und Besucher*innen dazu auffordert, sich selbst ein Urteil zu bilden. Dennoch ergreifen Museen ganz zwangsläufig immer wieder Partei: In den meisten Weltregionen sind etwa Befürworter*innen offen rassistischer oder sexistischer Ideologien in Museen nicht vertreten oder werden, falls sie Teil einer Ausstellung sind, die sich mit sozialen und politischen Kämpfen befasst, als verabscheuungswürdig dargestellt, weil sie gegen geltende Menschenrechtsnormen verstoßen.
In seiner Untersuchung der Rolle von Museen im Kontext sozialer Bewegungen plädiert Sandell dafür, die Fixierung auf eine vermeintliche Objektivität aufzubrechen. Er betont den Schaden, den Gemeinschaften erleiden können, wenn die aktuellen Kämpfe für Gerechtigkeit in einer Weise kanalisiert und öffentlich diskutiert werden, dass alle Standpunkte für gleichermaßen legitim erklärt werden. Sandell zufolge sollten Museen ihre Rolle im Hinblick auf zeitgenössische Menschenrechtsthemen – also Black Lives Matter, den Umgang mit Migrant*innen und Geflüchteten, die Gleichstellung von Frauen, Menschen mit Behinderungen, LGBTQ-Communitys, Glaubensgemeinschaften und so weiter – neu definieren: weg von der Idee des Museums als Forum, das zuweilen den Besucher*innen die Aufgabe überlässt, die Legitimität divergierender moralischer Sichtweisen gegeneinander abzuwägen, und hin zu einem Museum als Schiedsrichter (Sandell 2016). Museen müssten, so Sandell, bereit sein, konkurrierende moralische Behauptungen kritisch zu bewerten und sich zwischen ihnen zu entscheiden. Dies können sie tun, indem sie sich für Gleichheit, Respekt und Würde für alle Menschen und gegen Unterdrückung und Diskriminierung, in welcher Form auch immer, positionieren – auch wenn dies im öffentlichen Raum zu Herausforderungen und Kontroversen führt.
Dies ist sicherlich keine einfache Aufgabe, und Museen, die progressive Werte kommunizieren und unterstützen und zugleich vertrauensvolle Beziehungen zu unterschiedlichen Zielgruppen und Communitys aufbauen und pflegen wollen, stehen vor erheblichen Herausforderungen. In aktuellen Streitfragen Position zu beziehen ist zumeist mit zahlreichen komplexen ethischen Dilemmata verbunden und wird durch die Polarisierung der Gesellschaft zusätzlich erschwert – und trotzdem wird eine solche Positionierung derzeit mehr und mehr zu einem wesentlichen Merkmal der Museumspraxis des 21. Jahrhunderts.
- Dies findet seinen Niederschlag z. B. in der aufkommenden professionellen Debatte zur gesellschaftlichen Rolle und Verantwortung von Museen, so etwa auf der Konferenz „Museums and Social Responsibility: values revisited” im Jahr 2020, die vom Deutschen Museumsbund und dem Netzwerk Europäischer Museumsorganisationen (NEMO) (https://www.ne-mo.org/about-us/eu-presidency-museum-conference.html) gemeinsam organisiert wurde, sowie in einem zunehmenden Bewusstsein für den politischen Druck, dem Museumsmitarbeiter*innen mitunter ausgesetzt sind (Marstine und Mintcheva 2020).
- Siehe z. B. EuNaMus 2013; Golding 2016; Marstine 2017; Sandell 2016.
- Zu einer Auswertung der Forschungsliteratur, die die Wirkung von Museen auf Besucher*innen belegt, siehe Dodd, Sandell und Scott 2014. Eine Reihe umfangreicher quantitativ-qualitativer Besucher*innenstudien zur Interaktion mit und zur Rezeption von Museums- und Kulturerbeprojekten, mit denen Positionen im Bereich Inklusivität und Menschenrechte gestärkt werden sollen, findet sich auch unter https://le.ac.uk/rcmg.
- Siehe bspw. Dodd et al. 2018. Dieser Forschungsbericht beinhaltet die Ergebnisse einer Untersuchung zur Rezeption eines öffentlichen Ausstellungsprogramms des National Trust zum Thema LGBTQ. Im Rahmen dieses umfassenden Programms widmeten sich Museen und Kulturerbestätten in ganz England und Wales der Geschichte der gleichgeschlechtlichen Liebe und der Geschlechterdiversität. Das Programm erreichte 353.553 Besucher*innen und generierte über 500 Erwähnungen in den Medien. Zwar wurde in einigen nationalen Zeitungen behauptet, die Art der Auseinandersetzung des National Trust mit LGBTQ-Themen sei bei Mitgliedern der Community, Freiwilligen und der allgemeinen Öffentlichkeit auf heftige Kritik gestoßen, aber eine breit angelegte Befragung zwischen März und November 2017 mit 4.195 Befragten zeigte, dass das Programm von den Besucher*innen tatsächlich sehr positiv aufgenommen wurde. So nahmen 51 % (ein deutlicher Anstieg von zuvor 44 %) der Besucher*innen den National Trust als eine Organisation wahr, die „Geschichten einer vielfältigen Kultur und eines vielfältigen Erbes erzählt“. Eine detaillierte Mixed-Methods-Studie zu 1.683 Besucher*innen-Antworten zeigte, dass 71 % der Befragten es als positiv beurteilten, dass sich der National Trust mit sexueller und Gender-Diversität befasst, und bestätigte zugleich die weitreichende und zum Teil transformative Wirkung des Programms auf die Wahrnehmung und Einstellung von Besucher*innen gegenüber LGBTQ-Menschen.
- Eine Studie der American Alliance of Museums ergab, dass Museen in den USA als vertrauenswürdigste Informationsquelle gelten – und damit höher bewertet werden als Lokalzeitungen, gemeinnützige Organisationen, Forscher*innen, die US-Regierung oder Wissenschaftler*innen an Universitäten (American Alliance of Museums 2012).
- Siehe z. B. Sandell 2007.
American Alliance of Museums (2012): „Museum Facts & Data“. Online unter: http://www.aam-us.org/about-museums/museum-facts [Zugriff: 5.8.2020].
Chynoweth, A., Lynch, B., Petersen, K. und Smed, S. (2020): Museums and Social Change: Challenging the Unhelpful Museum. London: Routledge.
Dodd, J. et al. (2018): „Prejudice and Pride: An analysis of visitor engagement and response“. RCMG/National Trust.
Dodd, J., Scott, C. und Sandell, R. (2014): „User value of museums and galleries: a critical view of the literature“. Online unter: https://le.ac.uk/rcmg/research-archive/engaging-with-museums-1 [Zugriff: 25.9.2020].
EuNaMus (2013): European National Museums: Identity Politics, the Uses of the Past and the European Citizen, Executive Summary. Online unter: https://cordis.europa.eu/project/id/244305/reporting [Zugriff: 25.9.2020].
MacLeod, S. (2020): Museums and Design for Creative Lives. London: Routledge.
Marstine, J. (2017): Critical Practice: Artists, Museums, Ethics. Abingdon: Routledge.
Marstine, J. (Hg.): (2011) Routledge Companion to Museum Ethics: Redefining Ethics for the Twenty-First Century Museum. London und New York: Routledge.
Marstine, J. und Mintcheva, S. (Hg.) (2020): Curating under Pressure: International perspectives on negotiating conflict and upholding integrity. London: Routledge.
Sandell, R. (2007): Museums, Prejudice and the Reframing of Difference. London: Routledge.
Sandell, R. (2016): Museums, Moralities and Human Rights. Abingdon: Routledge.